Anita ist wie ein Seismograph, der durch unsere Gesellschaft geht, wie eine Sonde. Ich habe versucht, deren Ausschläge zu registrieren. [...] Ihre Geschichte wäre eine andere, wenn sie in einer anderen Gesellschaft leben würde. Und sie wäre auch eine andere, wenn die Deutschen eine andere Geschichte hätten.
- Alexander Kluge 1966
Da hätte Kluge also um ein Haar den Großen Preis der Mostra bekommen! Es lag, so hörte man, an einer Stimme. „Abschied von gestern“ lief als von der Festspielleitung eingeladener Film, nicht als offizieller Beitrag der Bundesrepublik. [...]. Das Komitee, von dessen Mitgliedern nicht eines deutsch versteht, sah den Film ohne Titel im Original. [...] Hätte es den Film genommen, wenn Kluge nicht auf eigene Kosten mit dem Film nach Venedig gegangen wäre und ihn kommentiert hätte? Als offiziell von Bonn benannten Film hätte es Abschied von gestern sicher nicht abgelehnt. Auf den Festivals selbst - das bestätigte sich in Venedig - kann sich der Junge Deutsche Film diplomatisch sehr gut selbst vertreten. Als sich auf der Pressekonferenz herausstellte, dass keiner der Festivaldolmetscher des Deutschen mächtig war, bewiesen Kluge und sein Team [radesprechend in 3 Sprachen] dasselbe Improvisationstalent, das sich bei der Realisierung des Films bewährt hatte.
- Enno Patalas, Filmkritik 1966
Abschied von gestern ist der Film von jemandem, der das Kino gerade entdeckt hat und mit aller Unbefangenheit das macht, was andere nur unter großen Anstrengungen im Kampf mit dem vergangenen Kino fertig bringen: neue Ausdrucksmittel finden. Das macht sie barbarisch neu. In gewisser Weise ist Kluges Verhältnis zur Kinogeschichte ein ähnliches wie das seinerAnita G. zur deutschen Geschichte.
- Frieda Grafe, Filmkritik 1966
Der Gärtner von Nürnberg 2017
Einen weiteren „Abschied von gestern“ zeigt Der Gärtner von Nürnberg. Der für die Blumenrabatte auf dem Reichsparteitag seit 1934 zuständige Beamte der Stadt Nürnberg beendet am 30.4.1945 seinen Dienst. Der Gärtner bleibt zwar anwesend, aber nicht mehr teilhabend, die „Stunde Null“ ist angebrochen und somit beginnt die moralische Belastung für die deutsche Nachkriegszeit, in der sich auch Anita G. behaupten muss.
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (der auch in „Abschied von gestern“ als er selbst auftritt und richtet) wird durch die im Film gezeigten Szenen des Nürnberger Dokumentationszentrums und Parteigeländes assoziativ eingefangen, ohne dabei die Person oder das Leben Bauers zum Gegenstand zu machen.
Am Tage der Preisverteilung überreichte man Alexandra Kluge schließlich die ‚Goldene Rose‘ als der sympathischsten Persönlichkeit der Filmfestspiele von Venedig. Dazu den ,Prix Cinema Nuovo‘ als der besten Schauspielerin und bei der Abstimmung der 91 akkreditierten italienischen Kritiker zur Ermittlung der bedeutendsten Schauspielerin entschieden sich drei für Jane Fonda, fünf für Julie Christie, neun für Ingrid Thulin und 65 für Alexandra Kluge.
- Illustrierter Filmkurier 1967
Lied der Medea 2023
Das Lied der Medea stellt einen aktuellen Kommentar zur Anita G. dar, mit dem die Brücke zur Gegenwart geschlagen wird. Der Film, durch den Einsatz von KI entstanden, beschreibt durch die ästhetische Verschmelzung der Portraits der Anita G. und einer hypothetischen Darstellung der aus der griechischen Mythologie stammenden Medea die Korrelation dieser beiden Figuren, denn sie teilen sich ein ähnliches Schicksal in der eigenen Tragödie: Beide handeln vermeintlich wider besseres Wissen. Durch die Missachtung von Bindungen und Verpflichtungen, die sich aus gesellschaftlichen Normen ergeben, eckt Medea ebenso wie Anita G. an dieser Gesellschaft an, sie sind die Umherirrenden, die immer Fremden, die Gedemütigten und die Verratenen, aber zu allem bereit.